Wie konnte man eigentlich vor der Digitalisierung Rad fahren?

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Über die Nützlichkeit digitaler Helfer und mobiler Dienste

Gestern hatte ich einfach Pech! Ich hatte fest geplant, an der Veranstaltung Critical Mass in Essen teilzunehmen. Wer das Event nicht kennt: Gemeint ist begrifflich die kritische Masse an Radfahrern, die benötigt wird, um sich gemäß §27 StVO als Kolonne fortzubewegen. Einmal monatlich freitags ab 19h, also nach Abklingen des Berufsverkehrs, fahren die Radler in Essen geschlossen durch die Stadt und überqueren Kreuzungen, selbst wenn die Ampel dabei auf Rot umspringt. Kolonnen dürfen das nach Ansicht der Teilnehmer; die örtliche Polizei legt sich da noch nicht fest. Nachdem es bei der letzten Veranstaltung einen Eklat mit Pressewirbel gab (die Polizei löste die Kolonne auf), würde es nun in Kooperation mit den Ordnungshütern und dem Einsatz einer Polizeifahrradstaffel zur Sicherung einen neuen Teilnehmerrekord geben. So war jedenfalls die allgemeine Erwartung. Das Event wollte ich auf keinen Fall verpassen!

Pünktlich um 19h sollte es nahe dem Essener Hauptbahnhof losgehen. Doch dann schlug das Schicksal gleich doppelt bei mir zu: Ein sehr wichtiger Termin am Nachmittag musste in den Abend verschoben werden; es war schnell klar, dass ich die erste Stunde der Tour verpassen würde. Es war nicht meine Schuld, aber eine Absage kam nicht in Frage. Die Radtour war also bereits eine Stunde im Gange. Als ob dies nicht genügen würde, ließ mich auch noch das Fahrrad im Stich: Hinterreifen ganz platt, Schlauch kaputt: eine Reparatur in kurzer Zeit war aussichtslos.

Es war also gestern ziemlich genau 20h als ich resümierte: Die Kolonne ist bereits seit einer Stunde unterwegs – und ich weiß nicht wo sie ist. Außerdem habe ich nicht einmal ein Fahrrad, um mitfahren zu können. In früheren analogen Zeiten hätte ich wohl aufgegeben. Bei mir unbekannten Nachbarn schellen und fragen, ob sie mir ein Rad leihen können? Dafür bin ich zu schüchtern. Und was nützt einem das Rad, wenn man nicht weiß, wo man hin muss?! Die Strecke der Critical Mass wird spontan bestimmt, also nicht vorher bekanntgegeben.

Meine Motivation war jedoch ungebrochen. Außerdem bin ich Fan der Digitalisierung und besitze ein Smartphone. Mehr benötigt man doch in der Regel nicht, um Alltagsprobleme zu lösen.

Erstens) Fahrrad besorgen

In früheren Zeiten hätte man vielleicht einen Fahrradverleiher angerufen. Aber es war nun Freitagabend nach Ladenschluss und ich kenne nicht mal einen örtlichen Verleiher. Zum Glück fiel mir ein, dass ich bei metropolradruhr angemeldet bin. Das ist eine öffentlich geförderte Initiative, die eine Vielzahl von Stationen in der Stadt betreibt, bei denen man für wenig Geld per App oder Telefon Räder ausleihen und abgeben kann. Das hatte ich zwar nie wirklich genutzt, nur mal ausprobiert, um meine Neugier zu befriedigen. Aber meinen Account gab es noch. Ich gehöre zu den Menschen, die fast alle digitalen Innovationen ausprobieren. Dabei möchte ich herausfinden, was es gibt und wie es funktioniert. Außerdem kann man es vielleicht irgendwann einmal persönlich gebrauchen oder für ein Forschungsprojekt auswerten. Der Moment war gekommen! Meine 6-stellige PIN befand sich im Passwortsafe, auf den ich auch per Smartphone zugreifen kann. Obwohl ich mich seit über drei Jahren nicht eingeloggt hatte, war mein Account noch aktiv und ein Guthaben von 4 EUR verfügbar (mehr als genug). Ich ließ mir die nächste Station anzeigen (200m entfernt): Hurra! Noch zwei Fahrräder dort verfügbar. Schnell dahin und eines ausgewählt. Die Radnummer wird in der Nextbike-App eingegeben, man bucht das Rad und erhält die Ziffern für das Zahlenschloss. Ich hatte also nun ein Rad und es war 20.05h.

Zweitens) Kolonne finden

Ich hätte nun ziellos durch die Stadt fahren können, in der Hoffnung irgendwo Blaulicht zu sehen, das vielleicht von der Polizei zur Kolonnenabsicherung genutzt wird. Aber Essen gehört zu den zehn größten Städten der Republik. Man kann also lange suchen, wenn man nicht weiß, wo. Mein Smartphone ließ mich aber auch jetzt nicht im Stich. Vor kurzem hatte ich mir die App Critical Maps installiert (um sie auszuprobieren …). Diese wird nichtkommerziell von einer Radfahrer-Community bereitgestellt und zeigt auf OpenStreetMap-Karten die Position der anderen Nutzer an. Übrigens sehr datenschutzfreundlich: Ein Konto wird nicht benötigt; man gibt anonym seine Position frei und sieht in Echtzeit die Positionen anderer. Nach Beenden der App stoppt die Datenweitergabe. Die App wurde ursprünglich für Berlin entwickelt, aber dank OpenStreetMap und GPS-Ortung funktioniert sie überall auf der freien Welt, also auch in Essen im Ruhrgebiet. Leider nutzen nur sehr wenige Teilnehmer die App; anhand gestern erhobener Daten konnte ich abschätzen, dass 5% der Mitfahrer die App aktivierten. Aber dies reichte völlig. Wie auf dem Screenshot erkennbar ist, war die Kolonne um 20.06h auf der Rüttenscheider Straße unterwegs, die Bewegung zeigte mir eine nördliche Richtung an – ich konnte die Kolonne in wenigen Minuten erreichen.

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Andere Radler werden per App sichtbar (Open Street Map, Lizenz ODbL)

Eine später durchgeführte Bildersuche lieferte einen Schnappschuss, der die Kolonne in dieser Straße um 20.06h zeigt. Ortskundige erkennen hier die Kreuzung Rüttenscheider Straße / Klarastraße, und die fotografierte Uhr liefert den zugehörigen Zeitstempel.

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Die Kolonne um 20.06h (Bildverwendung mit freundlicher Erlaubnis von Nemo Kelevra)

Drittens) Mitfahren

Nun war ich also Teil der kritischen Masse und konnte die Tour genießen. Es waren nach Angaben der Nichtveranstalter (Organisatoren gibt es nicht) ca. 460 Teilnehmer, dazu kamen die uns freundlich begleitenden bzw. absichernden Polizisten – und die Stimmung war hervorragend. Leider war an meinem Metropolrad das Licht defekt. Auch mithilfe anderer Metropolrad-Kunden (man findet sich schnell, da die Räder auffällig markiert sind) konnte ich das Licht nicht aktivieren. Trotzdem fühlte ich mich sicher, da alle um mich herum beleuchtet waren und der Polizeischutz dafür sorgte, dass keine PKWs oder Fußgänger die Kolonne durchquerten. Mir sei also das ordnungswidrige Verhalten verziehen. Immerhin lieferte das Smartphone mit Taschenlampenfunktion eine Lichtquelle in Fahrtrichtung. Was hätte man wohl früher gemacht?!

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Ich war dabei. Selfie von der Critical Mass am 09.09.16 in Essen.

Kurz vor 21h war es mir dann aber doch zu dunkel und ich verabschiedete mich aus der Masse, gab das Rad an der nächstliegenden Station ab und beendete per App meine Buchung. Gleichzeitig konnte ich erfolgreich die Störungsmeldung „Licht defekt“ mit wenigen Gesten abgeben. Nicht einmal eine Freitexteingabe war nötig. So habe ich meinen winzigen Teil zur kollektiven Wertschöpfung beigetragen; das Rad wird nun umgehend aus dem Verkehr gezogen und repariert werden.

Beim nächsten Mal bin ich wieder dabei: Mit Smartphone, Helm und Licht.

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”The purpose of computing is insight, not numbers.” (Richard Hamming) Ulrich Greveler studierte in Gießen Mathematik und Informatik, arbeitete sechs Jahre in der Industrie im In- und Ausland, bevor er als Wissenschaftler an die Ruhr-Universität nach Bochum wechselte. Seit 2006 lehrt er Informatik mit dem Schwerpunkt IT-Sicherheit an der Fachhochschule Münster (bis 03/2012) und der Hochschule Rhein-Waal (seit 03/2012). Sein besonderes Interesse gilt datenschutzfördernden Technologien und dem Spannungsverhältnis zwischen Privatsphäre und digitaler Vernetzung.

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